E-Mail für Oma
Carolin Philipps
Alle in seiner Klasse hatten eine Oma, nur Michael nicht. Die meisten hatten sogar zwei und noch einen Opa dazu. Michael hatte zwar einen Opa, den Vater seiner Mutter, aber den mochte er nicht und hätte ihn gerne gegen eine Oma eingetauscht. Gerade jetzt, kurz vor Weihnachten, war eine Oma unbezahlbar. Sein Freund Moritz hatte sich von seiner eine neue Playstation gewünscht. Seine Eltern hatten kein Geld dafür, aber die Oma hatte ihre Rente und nur ein Enkelkind. Was machte sie also? Sie erfüllte Moritz jeden Wunsch – zum Entsetzen der Eltern! Michael hatte auch jede Menge Wünsche, die seine Eltern ihm nicht erfüllen konnten. Aber im Unterschied zu Moritz hatte er keine Oma. Und das empfand er als sehr ungerecht. Was hatte er getan, dass er ohne Oma dastand? „Vielleicht kann man eine mieten!“, schlug Moritz hilfsbereit vor. „Mein Vater sagt, heutzutage kannst du alles mieten.“ Moritz brachte auch gleich am nächsten Tag eine Telefonnummer mit. „Wenn meine Tante abends eingeladen ist, ruft sie da an und die schicken eine Oma oder einen Opa vorbei, die auf meine kleine Cousine aufpassen.“ Moritz rief sofort an, aber es stellte sich heraus, dass man diese Omas und Opas nur stundenweise mieten konnte. Die Zeit drängte. In acht Wochen war Weihnachten und keine Oma in Sicht. „Stell eine Anzeige ins Internet!“, schlug Moritz vor. „Du spinnst ja!“, meinte Michael. „Wer soll denn die Anzeige lesen? Hast du schon mal eine Oma gesehen, die im Internet surft?“ Moritz schüttelte den Kopf. Seine Oma strickte und malen konnte sie auch gut. Im Keksebacken war sie sogar besser, als der Bäcker im Einkaufszentrum. Aber mit Computern hatte sie nichts am Hut. „Das ist nichts für meine Generation!“, sagte sie immer wieder, wenn Moritz ihr vorführen wollte, was er von ihrem geschenkten Geld an Zubehör für seinen Computer gekauft hatte. Michael hatte sich schon fast mit dem Gedanken abgefunden, dass er nicht mehr rechtzeitig vor Weihnachten eine Oma finden würde, als ihm der Zufall zu Hilfe kam. Er saß an seinem Computer und war gerade in ein Fußballspiel vertieft, als seine Eltern nach Hause kamen. Sie unterhielten sich aufgeregt. „Der Arzt sagt, es ist nichts Schlimmes. In zwei Tagen kann sie wieder aufstehen. Das war der Kreislauf, mehr nicht.“ Vaters Stimme klang leicht genervt. „Vielleicht solltest du sie doch mal besuchen, oder sie wenigstens anrufen.“ „Wozu? Wenn sie Sehnsucht nach mir gehabt hätte, dann hätte sie sich längst mal gemeldet.“ Michael hörte an Vaters Stimme, dass er nicht mehr darüber reden wollte. „Vielleicht hat sie gewartet, dass du dich meldest. Sie ist doch deine Mutter.“ Den Rest bekam Michael nicht mehr mit. Er konnte nicht glauben, was er da gehört hatte: Er hatte eine Oma! Er hatte nur nichts davon gewusst. Ein ungeheurer Zorn auf seine Eltern stieg in ihm auf. Am liebsten wäre er gleich in die Küche gerannt. Aber dann … Wenn sein Vater seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr hatte, würde er ihn auch jetzt nicht suchen, nur weil er, Michael, eine Oma für die Weihnachtsgeschenke brauchte. Nein, er musste die Sache selber in die Hand nehmen. Wenn sie Vaters Mutter war, musste sie den gleichen Namen haben: Brammuer. Hoffentlich wohnte sie nicht im Altersheim oder hatte gar kein Telefon. Den Namen Brammuer gab es nur drei Mal. Den seines Vaters: Hans, dann einen Peter und eine Marta. Sonst hatte sich Michael immer über den komplizierten Nachnamen geärgert. Jetzt war er zum ersten Mal froh darüber. Wenn er Meier oder Müller heißen würde, hätte er jetzt ein Problem. Aufgeregt wählte er die Nummer von Marta Brammuer. „Haben Sie einen Sohn Hans?“, fragte er sofort, als sie ihren Namen genannt hatte. „Habe ich. Was ist mit ihm? Ist etwas passiert?“ Die Stimme klang aufgeregt. „Nein, nein!“, sagte Michael. „Alles in Ordnung! Er lässt Sie grüßen. Und wünscht gute Besserung.“ „Wieso …“ Aber da hatte Michael schon aufgelegt. Neben ihrem Namen stand die Adresse: Königstraße 15. Mit der S-Bahn fuhr er am nächsten Tag nach der Schule los. Während er noch vor dem Haus in der Königstraße stand und überlegte, wie er jetzt am besten vorgehen sollte, ging die Haustür auf und ein Mann kam heraus. Bevor die Tür wieder zuschlug, schlüpfte Michael ins Haus. Er suchte neben den Wohnungstüren nach ihrem Namen. Im dritten Stock hatte er endlich Erfolg: Marta Brammuer. Als er klingeln wollte, hörte er Geräusche hinter der Tür. Er rannte die Treppe in den nächsten Stock hoch. Da ging die Tür auf und eine Frau kam heraus. Das musste sie sein! Er folgte ihr bis ins Seniorenzentrum und spähte durch das geöffnete Fenster. Da saß sie vor einem Computer und ließ sich von einem jungen Mann erklären, wie man E-Mails verschickt. „MartaBrammuer@hotmail.com“, murmelte sie vor sich hin, während sie die entsprechenden Buchstaben tippte. „Und damit kann ich jetzt Briefe verschicken? Ohne Briefmarken?“ Der junge Mann nickte. „Aber ich kenne niemanden, der so eine E-Mail-Adresse hat.“ „Erst mal üben!“, meinte der junge Mann. „Dann ergibt sich der Rest von alleine.“ Er hatte keine Ahnung, wie recht er haben sollte, denn Michael war schon auf dem Weg nach Hause zu seinem Computer. „Liebe Oma!“, schrieb er. „Du kennst mich nicht, aber ich habe dich gesehen. Schreib mir mal! Michael“ Offensichtlich übte seine Oma immer noch. Jedenfalls war zehn Minuten später die Antwort da. „Hallo Michael! Wo hast du mich gesehen?“ Das war der Anfang einer E-Mail-Freundschaft. Täglich gingen etliche E-Mails hin und her. Er schrieb ihr von seinen Eltern, von der Schule. Sie schrieb, dass sie ihn sehen wollte. „Warum kenne ich dich nicht?“, wollte Michael wissen. Dazu wollte sie nicht viel erzählen. Sie hatte sich vor vielen Jahren mit ihrem Sohn, Michaels Vater, gestritten. So heftig, dass keiner mehr mit dem anderen reden wollte. Beide waren zu starrköpfig, um den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun. „Das liegt in der Familie. Daran kann man nichts ändern“, schrieb sie. Das sah Michael anders und beschloss, mit der Familientradition zu brechen und sie einfach zu besuchen. Es war der Anfang einer abwechslungsreichen Vorweihnachtszeit. Seine Oma konnte zwar weder Kekse backen noch stricken, kannte aber jeden Spieler der Blue Devils persönlich. „Deine Oma geht zu Football-Spielen?!?“, fragte Moritz verwundert und ein bisschen neidisch. Michael nickt stolz. „Sie hat Karten für morgen.“ Da seine Eltern bis zum Abend arbeiteten, fiel es niemandem auf, dass Michael ebenfalls erst abends nach Hause kam. Er besuchte mit seiner Oma die Weihnachtsmärkte der Stadt. Sie gingen auch auf die Schlittschuhbahn, wo Michael erstaunt feststellen musste, dass seine Oma zwar nicht so schnell fuhr wie er, aber genauso sicher. „Hast du ihr schon deine Wunschliste gegeben?“, wollte Moritz wissen. Michael schüttelte den Kopf. An das Computerspiel, das er sich doch schenken lassen wollte und weshalb er überhaupt nach einer Oma gesucht hatte, hatte er gar nicht mehr gedacht. „Hat sie wenigstens Geld?“, wollte Moritz wissen. Michael zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung… Aber sie hat Zeit… Zeit für mich.“ Moritz schaute ihn nachdenklich an. Sechs Tage vor Weihnachten verstauchte sich Michael den Fuß beim Sportunterricht. Am meisten ärgerte ihn, dass er das Treffen mit seiner Oma absagen musste. Also würde er sie vor Weihnachten nicht mehr sehen können. Abends saß er an seinem Computer und las ihre Antwort. Sie war besorgt und etwas traurig. „Ich wünsche mir zu Weihnachten“, schrieb sie zum Schluss, „dass wir uns im neuen Jahr wiedersehen.“ In diesem Moment ging das Telefon. Sein Vater schaute zur Tür herein. „Dein Freund Moritz will dich sprechen.“ Als Michael zurückkam, war sein Computer ausgeschaltet. Ärgerlich lief er ins Wohnzimmer. „Hast du ihn abgeschaltet?“, rief er seinem Vater zu. Er bekam keine Antwort. Michael war sauer. Er mochte es gar nicht, wenn seine Eltern an seinen Computer gingen. Sein Vater saß vor dem Fernseher, wo gerade ein Musiksender lief, den er eigentlich hasste. Er merkte wohl gar nicht, was er da sah. „Papa!“ Keine Antwort. Auch die nächsten Tage war der Vater merkwürdig abwesend. Sogar Michaels Mutter beschwerte sich, weil er nicht mehr zuhörte, wenn sie etwas erzählte. Manchmal bemerkte Michael, wie der Vater ihn merkwürdig ansah, was bei ihm gleich ein schlechtes Gewissen hervorrief. Dabei war er ganz sicher, dass er diesmal völlig unschuldig war. Drei Tage vor Weihnachten, Michael wollte gerade seinen Computer anschalten, kam sein Vater ins Zimmer. Er stand etwas verlegen da. Michael schaute ihn fragend an. „Wenn du ihr schreibst, dann sag ihr, dass ich dich morgen zu ihr fahre. Als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk .“ Obwohl Michael ganz sicher war, dass sie am Computer saß und seine Nachricht erhalten haben musste – denn um diese Zeit schickten sie immer ihre E-Mails, dauerte es sehr lange, bis die Antwort kam. Und sie bestand auch nur aus wenigen Worten: „Hat Hans auch E-Mail?“
Brita Groiß; Gudrun Likar: Weihnachten ganz Wunderbar: ein literarischer Adventskalender. Wien: Ueberreuter, 2001